Protest, Wehmut, Erinnerung - St. Walburgis

Protest, Wehmut, Erinnerung - St. Walburgis

Jeden Sonntag in die Kirche gehen zu sollen - das war für meine 11jährige Schwester Susanne irgendwann ein Grund zum Protest; zumal es nicht nach St. Walburgis gehen sollte, sondern in den Dom. Ihren Protest hat sie eindrücklich zu Papier gebracht und mich (drei Jahre älter) – als Verstärkung - gleich mitunterschreiben lassen; was mir wohl sehr gelegen kam. Ob es seinerzeit etwas genutzt hat: wir haben es vergessen. Unsere Eltern empfanden den Protest aber so besonders, dass sie den Zettel jahrzehntelang aufbewahrt haben.

Ein halbes Jahrhundert später gäbe es einen ganz anderen Anlass zu protestieren: Ich muss befürchten, dass MEINE Kirche verkauft oder abgerissen wird – nach gerade mal 70 Jahren ihres Bestehens. Mein St. Walburgis in Wetzlar-Niedergirmes wurde am 2. Oktober 1953 eingeweiht, in Sichtweite der Industrieanlagen von Edelstahl und Buderus. Diese Nähe zu Schloten und Fabrikgebäuden war wohl seinerzeit Inspiration für den Architekten Reinhard Hofbauer. Anlass für den Bau dieser katholischen Kirche waren nach dem 2. Weltkrieg die neuen Niedergirmeser: Spätaussiedler, Kriegsflüchtlinge, Vertriebene, Arbeitsmigranten; viele davon katholisch - und das in einer traditionell evangelischen Stadt. Auch meine Eltern waren Vertriebene, die am Industrie-Standort Wetzlar Arbeit fanden und eine Familie gründen konnten. Sie stammten aus Oberschlesien und haben sich in Deutschland kennengelernt.
Gemeinschaft und Heimatgefühl haben meine Eltern – und später auch meine Schwester und ich - in der Kirche gefunden, in unserer Kirche: St. Walburgis. Ein Gebäude, das zu seiner Entstehungszeit passt: hohe Decken, hell, fast nüchtern, geradlinig mit der Konzentration auf das Wesentliche. Hier trafen meine Eltern auf Katholiken mit Wurzeln in Schlesien und dem Sudetenland. Man feierte zusammen den Sonntagsgottesdienst, half einander, sprach über die Kinder und – für mich heute noch etwas Besonderes – gründete Interessengemeinschaften zum Wohl der Kirche. Dies geschah verstärkt unter Pfarrer Winfried Didinger, einem bemerkenswert gütigen Menschen, der von 1969 bis 1983 Pfarrer von St. Walburgis war. So entstand auch ein Familienkreis, dem sieben Ehepaare mit ihren Kindern angehörten. Die Erwachsenen trafen sich regelmäßig in den Gottesdiensten - und zum Feiern. Die Gruppe wurde zu einer Keimzelle für den Pfarrgemeinde- bzw. Verwaltungsrat und den Kirchenchor. Die Kinder besuchten den angrenzenden katholischen Kindergarten; später die Jugendgruppen, in denen wir Ausflüge machten vor allem gebastelt oder gebacken wurde.

In St. Walburgis begegneten meine Eltern Menschen, die ein ähnliches Schicksal erlebt hatten. Sie alle wollten einen Neuanfang finden und sich integrieren. Das alles jenseits von beruflichen Verpflichtungen, mit dem Wunsch nach Geborgenheit und einem christlichen Miteinander mit viel Zugewandtheit und Vertrauen. Gemeinschaft wurde gewollt und aktiv gelebt – vielleicht so, wie man es von Kindheit an kannte. Und der sonntägliche Kirchgang gehörte wie in der verlorenen Heimat dazu.
Wenn ich heute an meine Erlebnisse in St. Walburgis zurückdenke, fällt mir schlaglichtartig viel ein: Weihrauch satt an hohen Feiertagen wie Ostern und Weihnachten; Orgelmusik – speziell die Toccata und Fuge von Johann Sebastian Bach; selbst Singen – das tut mir immer besonders gut und fehlte mir während Corona sehr; vertraute Rituale, die mir damals wie heute Kraft und Verlässlichkeit geben; Fahrten zu fünft dicht gedrängt im R4 in die Gutleutstraße, denn Oma Geppert lebte viele Jahre bei uns; die bezaubernde Krippe in der Adventszeit mit liebevoll geschnitzten Holzpuppen und der Missionsspardose, auf der ein Mensch mit dunkler Hautfarbe kniete und nach dem Einwurf einer Münze wie zum Dank mit dem Kopf nickte; Oblaten, die am Gaumen klebten, was ich heute nicht mehr erlebe; die Aufregung vor der Beichte und die Sorge, was gestehe ich dem Pfarrer; die mit Kerzen magisch beleuchtete Kirche in der Osternacht, nachdem wir vorher auf dem Kirchhof fröstelnd um das Osterfeuer gestanden hatten.
Und dann die Feiern an Fasching. Es gab eine Live-Band, Büttenreden auch zu Ereignissen um die Kirche, fantasievolle Kostüme. So trat mein Vater bekleidet mit Kasack und Fellweste in den 80er Jahren als Ivan Rebroff auf und interpretierte gekonnt dessen Lieder – Vollplayback versteht sich - noch bevor Karaoke modern wurde. Er war zwar als Mitglied im Kirchenchor ein geübter Bass-Sänger, aber sein Stimmumfang reichte nicht über vier Oktaven... Es wurde viel gelacht, gesungen, getanzt, gegessen – eben was zum guten Feiern dazu gehört. Geschmückt war der Pfarrsaal für diesen Anlass mit großformatigen Zeichnungen meines Vaters. Sie zeigten den Eiffelturm und andere europäische Wahrzeichen vor allem tanzende Menschen. Mit Rührung habe ich in diesem Frühjahr gesehen, dass einige noch immer existieren und zum Seniorenfasching im Pfarrsaal aufgehängt wurden.

Immer wieder finde ich ein neues Detail in dem expressiven Gemälde in der Apsis mit dem Titel „Das himmlische Jerusalem“ von Hermann Gottfried aus Bergisch Gladbach. Faszinierend die tiefgründigen Augen, die er sowohl dem Lamm Gottes als auch Jesus auf dem Kreuzweg malte. Dazu passen die fast zurückhaltenden Bronzen von Karl Matthäus Winter. An der rechten Kirchenwand auf einem Sockel stehend und die Kerzen der Gläubigen bewachend, die barock anmutende Madonna aus dem 19. Jahrhundert; denkwürdig: ihr trauriges Gesicht mit dem leichten Silberblick.

Dankbar bin ich, dass meine Schwester Susanne und ihr Mann Greg ihren Sohn Evan in St. Walburgis taufen ließen. Das war keineswegs selbstverständlich, denn 2002 lebten sie bereits viele Jahre in Australien. Es war ein sehr persönlicher Gottesdienst im kleinen Kreis am Taufbecken auf dem Hochchor, den Pfarrer Peter Kollas mit viel Einfühlsamkeit für die Familie und Freunde gestaltete.

Mein ganz persönliches Highlight: Die kirchliche Trauung im Rahmen eines Sonntagsgottesdienstes am 29. Juni 2014, in der Paul und ich vor der anwesenden Gemeinde offiziell ein Paar wurden. Es war unser Wunsch, dass Pfarrer Peter Kollas uns traut. Wir denken noch oft und gerne an ihn, insbesondere während der Chorproben, denn im Übungsraum hängt seine Todesanzeige und ein sehr schön vertrautes Bild von diesem mitmenschlichen engagierten Priester.

Seit zwei Jahren singe ich selbst im Kirchenchor, zusammen mit meinem Mann im traditionell schwach besetzten Tenor und gestalte gerne Gottesdienste als Lektorin mit. Dass ich nun auch in der Wetzlarer Anziehecke der Caritas aktiv bin, habe ich Menschen wie Lydia Kapol zu verdanken, die viel Lebensenergie für St. Walburgis einsetzen.

Als langjährige Finanzcontrollerin kann ich verstehen, dass eine Kirche wie St. Walburgis sich für die Diözese nicht mehr „rechnet“: Kirchturm und Pfarrsaal sind sanierungsbedürftig, der hohe Kirchenraum lässt sich nur schwer beheizen, die Gottesdienste werden nur noch von Wenigen besucht und die Zahl der Ehrenamtlichen, die das Gemeindeleben lebendig halten, nimmt stetig ab. Aber das Herz wird mir schwer, wenn ich daran denke, dass es diese MEINE Kirche St. Walburgis bald nicht mehr geben könnte.

Gabi Geppert

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Tel. 06441 32207
Mo.: 15 – 17 Uhr

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